MANUELA MANDL
(INTERVIEW + FOTOS VON: JESSICA ZUMPFE)
Manuela Mandl stand nicht im Windelalter schon auf dem Snowboard. Sie ist noch
nicht mal in den Bergen aufgewachsen, sondern im Flachland Wien. Mit 14 stand
sie das erste Mal auf dem Brett, und mit 22 fuhr sie ihre ersten Wettbewerbe.
Trotzdem wurde sie 2018 World Champion im Freeriden. Seitdem kann sie vom
Snowboarden leben – ein Traum von vielen, eine Realität von einer Handvoll
Auserwählten.
Heute ist sie ‚a bissl über 30‘, hat eine Basis in Innsbruck und eine in Wien, ist fast
mit ihrem Architekturstudium fertig, macht verschiedene Filmprojekte und
verbringt so viel Zeit wie möglich in den Bergen – Sommer wie Winter.
"Jeder ist ein Mensch, mit
Stärken und Schwächen, und das Geschlecht sollte egal sein."
Du bist in Wien aufgewachsen, fernab vor großen Bergen. Wie kommt es, dass du es trotzdem an die Spitze geschafft hast?
Ich hatte das Glück, dass ich alle Winterferien mit meiner Familie in den Bergen
verbracht habe. Jeder Tag in den Bergen war für mich ein Bonus, dann macht man
das Beste aus den Tagen, die man hat. Wenn’s schlechter Schnee ist, oder die
Konditionen nicht so toll, gibt man trotzdem Gas, weil man eine Woche später
wieder in der Stadt ist und auf keinen Fall wieder in die Berge kommen kann. Ich
glaube, das ist im Endeffekt ein Vorteil. Ich hab mit dem umgehen müssen was da war,
und das waren viele schlechte Winter.
Hattest du als Kind Vorbilder und Mentor*innen, die dich gepusht oder dir diese Welt eröffnet haben?
Nein, überhaupt nicht. Weder Vorbilder noch Mentoren. Ab 15-16 hatte ich eine
Crew von einheimischen Skifahrern, die mich mitgenommen haben. Die waren etwas
älter und viel besser, vielleicht haben die so eine Art Coaching-Rolle übernommen.
Mein Hauptanliegen war, dass die nicht auf mich warten müssen. Das war schon
schwer genug, aber dadurch bin ich auch ganz schön schnell geworden. Von da aus
war es ein Selbstläufer. Ich hab relativ früh schon festgestellt, dass ich meine Kosten
durch Sponsoren decken müsste. Grad wenn man studiert und jung ist, hat man
eigentlich nicht noch Geld für neue Ausrüstung übrig.
Gab es auch andere Frauen in deiner ursprünglichen Crew?
Es gab überhaupt keine Frauen. Ich hatte bei den Contests eine Freundin, mit der ich
gefahren bin und irgendwann gab es ein paar sehr gute Skifahrerinnen, mit denen ich
unterwegs war, aber das war’s dann. Wenn wir zwei Frauen in einer Crew waren,
dann war das schon richtig viel.
Ist das jetzt anders?
Es ändert sich langsam. Sehr, sehr, sehr, sehr, langsam. Es ist immer noch so, auch in
den Wettbewerben, dass es viel zu wenig Teilnehmerinnen gibt. Es gibt viel zu wenig
Frauen, die sich trauen, weil das ist es ja bei jedem Outdoor Sport: Das Sich-Trauen,
einfach mal probieren und neu lernen, scheint bei Frauen ein großes Hindernis zu
sein. Ich fang ja auch bei jedem Sport, den ich neu lerne, immer wieder vor vorne an –
das geht ja nicht anders.
Wieso, glaubst du, gibt es immer noch zu wenig Frauen im professionellem Extremsport?
Ich glaube, es ist in erster Linie eine gesellschaftliche Sache. Es gibt risikofreudige und
risikoscheue Männer und Frauen, aber die gesellschaftliche Wertschätzung für
risikofreudige Frauen oder überhaupt „etwas zu wagen“ ist geringer. Das wird nicht
so gefördert. Dann stehen wir da und haben Frauen die sich nicht so viel trauen,
weil’s nicht cool ist.
Ich denke, es geht viel um das Grundbedürfnis von Anerkennung. Solange Jungs
belohnt werden, wenn sie irgendwo runterspringen und die Mädels nur hören „pass
auf, dass du dir nicht weh tust“, wird sich das nicht ändern. Ich sag jetzt nicht, jeder
soll total kopflos irgendwo runterspringen, aber man lernt halt schon von klein auf,
was von einem erwartet wird. Somit finde ich Grundlagenarbeit in Schulen und
Kindergärten extrem wichtig.
Was liebst du am meisten beim Freeriden? Wieso hast du diesen Sport gewählt?
Ich kann einfach nichts anderes. Ich war nie im Park unterwegs – vielleicht wäre
Boardercross noch eine Option für mich gewesen, aber das war nicht so zugänglich.
Ich liebe das Freeriden, weil man eigentlich alles selbst entscheidet und
eigenverantwortlich ist. Es gibt keine fixen Regeln. Sogar beim Contest macht man
jede Line für sich selber. Ich mag auch, dass man ständig re-evaluieren muss. Über
den Tag verändert sich das Licht, der Schnee und die Sonneneinstrahlungen. Ich lerne
immer dazu und es ist immer anders. Man kann jeden Berg noch so oft fahren, aber
es ist nie das gleiche. Das ist schon cool.
"Ich liebe das Freeriden, weil man eigentlich alles selbst entscheidet und
eigenverantwortlich ist. Es gibt keine fixen Regeln."
Würdest du dich als Adrenalinjunkie beschreiben? Hast du auch manchmal Angst und wenn ja, vor was?
Ich habe ein höheres Risikolevel als die meisten Personen, gehe aber bewusst kalkuliert
damit um. Das Wort „Junkie“ ist aber so negativ besetzt und geht davon aus, dass man
alles tun würde für die nächste ‚Spritze‘. So bin ich nicht. Ich würde mich eher als
Adrenalin-Ernterin oder Adrenalin-Farmer bezeichnen.
Ich bin nicht wirklich ein ängstlicher Mensch. Es ist eine meiner größten Schwächen,
dass ich Angst als Schwäche sehe und nicht als positiven Schutzmechanismus. Wenn
ich Angst spüre, stelle ich mich der und begib mich immer wieder in die Situation, bis
ich sie überwunden habe. Die Kehrseite ist, dass ich manchmal recht unsensibel mit
irrationalen Ängsten von anderen umgehe.
Welche persönlichen Eigenschaften sind beim Freeriden am Wichtigsten?
Gewisse Persönlichkeitsstrukturen sind schon wichtig, zum Beispiel, sich zwar tragen
zu lassen von einem Drive oder Adrenalinschub, aber nicht komplett den Kopf zu
verlieren. Das geht in dem Sport nicht. Dann gibt es gewisse technische
Eigenschaften wie z.B. Orientierung, gewisse Körperbeherrschung- und bewusstsein,
Gleichgewichtsgefühl und Beobachtungsgabe, damit man den Berg und die
Konditionen im Blick hat. Das hat aber auch alles mit Erfahrung zu tun.
Du hattest 2018 einen Unfall, der deine Denkweise verändert hat. Mit welchen Stärken bist du aus dieser Zeit rausgekommen und was machst du jetzt anders?
Ja, ich bin ziemlich doll auf den Kopf gefallen und hab dann erst realisiert, dass ich
nicht unzerstörbar bin. Seitdem gehe ich Risiken nicht unbedingt weniger, aber
bewusster ein. Ich überleg mir, was im schlimmsten Fall passieren kann und
entscheide dann bewusst, dieses Risiko einzugehen. Ich gehe nicht mehr davon aus,
dass eh alles gut gehen wird.
Eine größere Gehirnerschütterung wirkt sich schon auf viele Bereiche des Lebens aus,
untere anderem auch auf die Emotionen und die kognitive Leistung. Das war schon
interessant herauszuklamüsern, was meine Realität ist und was die
Gehirnerschütterung verursacht hat. Die kognitive Leistung musste ich mit
Übungsbüchern für Demenzkranke wieder hochtrainieren.
Von außen betrachtet, lebst du ein Leben, was für viele Menschen immer ein Traum bleiben wird. Gibt es auch Dinge, wo du Abstriche und Kompromisse machst?
Ja, ich finde, ich mache extreme Abstriche. Im professionellen Bereich als Architektin
habe ich meinen Lebenslauf vielleicht nicht versaut, aber unkonventionell gestaltet,
was mir vielleicht in Zukunft noch Schwierigkeiten bereiten wird. Aber was ich als die
größten Abstriche empfinde, sind längerfristige soziale Beziehungen.
Der Sport nimmt sehr viel Zeit ein, ist mit vielen Reisen verbunden und sehr
wetterabhängig. Er lässt einfach nicht viel Platz für andere Dinge und vor allem nicht
zum Planen. Ich kann mich nicht in 5 Tagen zu einem gemeinsamen Mittagessen
verabreden, denn wenn es ein guter Powdertag ist, dann bin ich nicht in Innsbruck.
Das ist für mich voll toll, dass ich so spontan sein kann, aber für einen engeren
Freundeskreis, nähere Beziehungen und auch Familie nicht immer leicht
nachzuvollziehen. Vor allem, weil es natürlich auch mit einem gewissen Egoismus
verbunden ist.
Du verfolgst drei recht große und unterschiedliche Bereiche in deinem Leben – die Architektur, Freeriden und das Filmen. Welche Ziele hast du dir in diesen Bereichen gesetzt und planst du, sie alle zu vereinen?
Ich möchte auf jeden Fall alle drei Bereiche weiter verfolgen. Ich freue mich schon
sehr auf die Wettbewerbe nächstes Jahr und meine Filmprojekte haben, glaube ich,
eh schon viel mit Struktur, Raum und Architektur zu tun, einfach weil das
Dinge sind, die mich beschäftigen.
Im Architekturbereich interessiert mich schon sehr der Alpine-Raum und die
urbane/nicht urbane Landgestalterische-Entwicklung. Also gibt es schon viele
Überschneidungen, die man vielleicht nicht sofort sehen würde.
Meine Snowboardreisen trete ich dann im Kopf als Architektin an, schaue mir die
Häuser und Gebäude an und mache mir Gedanken zum Dorfaufbau und wie die
Leute sich in dem Raum bewegen. Aber meistens ist mir alles in allem dann doch
etwas zu viel. Trotzdem sind alle Bereiche eine massive Bereicherung für mich und
ein kontinuierlicher Lernprozess.
Ist die Architektur eine Art „Altersvorsorge“? Eine sportliche Karriere ist ja dann doch körperlich und altersmäßig begrenzt.
Ich snowboarde immer mit dem Bewusstsein, dass jederzeit etwas passieren kann,
was den Sport auf kurz oder lang unmöglich macht. Es wäre für mich nie in Frage
gekommen, alles auf die Snowboardkarte zu setzten. Der Vorteil ist, dass man nicht so
viel Druck im Sport hat und somit mehr Spaß. Und in der Architektur kann ich das
Ganze "vor-dem Rechner-sitzen" wieder mit dem Snowboarden ausgleichen.
Kannst du dein Freeriden / dein Sport / deine Outdoor-Erlebnisse in deinen Beruf oder andere Bereiche deines Lebens einbringen?
Ja, zum Beispiel, wie man Projekte angeht und mental mit Druck umgehen kann. Das
Selbstvertrauen in den eigenen Geist und den eigenen Körper, eine hohe kulturelle
Anpassungsfähigkeit und der Umgang mit extremer Unsicherheit, was beim
Bergsport und Snowboarden immer der Fall ist, ist in jedem Lebensbereich sinnvoll.
Wir sind auch jetzt grade in einer besonderen Zeit, wo viele Leute plötzlich vor
Herausforderungen gestellt sind, die man sonst nur im Extremsport hat: dass man
nichts vorhersagen kann, dass auf einem Mal sich Umstände total ändern sowie eine
veränderte Wahrnehmung und Wertigkeit von Leben und Lebenszeit. Das ist das
Einzige, was man auch mit Geld nicht kaufen kann.
Deine Leidenschaft ist also das Freeriden. Gibt es auch etwas abseits davon, was dich erfüllt?
Ich zeichne immer wieder. Ich war auf einer Schule für künstlerische Gestaltung, bin
also halbe Goldschmiedin, halbe Keramikerin und halbe Tischlerin und mache
eigentlich alles Handwerkliche gern. Ich mache meine eigenen Möbel, meinen eigenen
Schmuck und habe auch für einen Sponsor eine Brille designen dürfen. Ich kann vieles
ein bisschen und mache alles leidenschaftlich dilettantisch.
"Ich habe ein höheres Risikolevel als die meisten Personen, geh aber bewusst kalkuliert damit um."
Auf was bist du am meisten stolz? Was würdest du in deinem Leben als größten persönlichen Erfolg bezeichnen?
Im Snowboarden: dass ich jetzt seit über 10 Jahren Wettbewerbe fahre, immer noch
Freude daran habe und fit genug bin.
Generell: dass ich eine hohe Stamina habe. Allerdings muss ich da aufpassen, da ich
manchmal ganz gerne übertreibe und nicht weiß, wann ich loslassen soll.
Hattest du auch mal Niederlagen oder Misserfolge? Und wie bist du damit umgegangen?
Schon oft! Viele kleine. Aber ich weiche den Misserfolgen ganz gut aus, indem ich mir
keine konkreten Ziele setzte. Ich habe eine vage Ahnung, wo ich hin möchte, eher auf
ein Gefühl bezogen, wie ich sein mag. Im Coaching sind konkrete Ziele ja schon immer
gern gesehen, aber ich finde das kann man diskutieren.
Wo ist dein „happy place“?
Beim Raufwandern mit der Aussicht auf eine richtig gute Abfahrt. Ich mag die
Vorfreude. Während der Abfahrt bin ich so fokussiert, so im Moment und voller
Adrenalin, dass ich mich an Details gar nicht erinnere.
Wie und wieso bist du Role Model bei den Exploristas geworden?
Ich bin gefragt worden, ob ich Rolemodel werden möchte, kenne viele von den anderen und
finde es total wichtig, dass es selbstverständlich wird, dass da auch Frauen sind. Mir
selbst hat eine Frauencrew sehr gefehlt und ich habe mir immer gewünscht, dass es
nichts Besonderes ist, eine Frau in dem Sport zu sein. Jeder ist ein Mensch, mit
Stärken und Schwächen und das Geschlecht sollte egal sein.
Das Unfaire ist ja, dass Sport und Leidenschaft komplett die eigene Lebensqualität
erhöhen, Frauen sich das aber selbst vorenthalten oder es ihnen gesellschaftlich
vorenthalten wird. Das ist extrem bitter. Am Schluss geht es ja um ein gutes
Leben für alle und dafür sind Strukturen so wichtig.
Wie siehst du die Frauenszene in deinem Sport?
Im Snowboard Freeriden hat sich in den letzten 10 Jahren, seitdem ich dabei bin, sehr
viel getan. Es werden immer mehr Mädels, das Niveau wird auch höher, aber es sind
immer noch viel zu wenige Frauen, die den Sport auch im höheren Niveau ausüben. Es
ist noch sehr, sehr viel Luft nach oben.
Was bedeutet Women’s Empowerment für dich?
Frauen die Optionen und Handlungsmöglichkeiten geben, dass sie selber
Entscheidungen treffen und wissen, was sie wollen. Vor allem, zu wissen und spüren,
was man will und was man nicht will, ist ein großer Punkt. Und im nächsten Schritt
dann mit ganzem Herzen JA und NEIN sagen können - ohne Rechtfertigungen und
Begründungen.
Was macht es für dich aus, wenn du in einer reinen Frauengruppe unterwegs bist?
Ich glaube, ich habe, wenn ich mit guten Freund/innen unterwegs bin eine ähnliche
Dynamik - egal mit welchem Geschlecht. Für mich muss es einfach von den Leuten her
passen. Es gibt machomäßige Männer, die vielleicht nicht so sensibel sind und das
macht es vielleicht mühsam und dann gibt es quengelnde und total anstrengende
Frauen, mit total irrationalen Ängsten, mit denen man auch wieder umgehen muss.
Ich glaube, dass viele Reibungspunkte in reinen Frauen- und auch reinen
Männergruppen oftmals wegfallen, da man einen Faktor der Komplexität einfach
rausnimmt. Grad im Anfängerbereich kann ich mir vorstellen, dass es sich positiv
auswirkt, da man nichts beweisen muss. Manchmal habe ich das Gefühl, das ganze
Leben wird als eine einzige Balzveranstaltung gesehen und oftmals gehört es da grad
einfach nicht hin.
Was möchtest du als Vorbild kommenden Exploristas mitgeben?
Mehr Mut, mehr trauen. Schon drüber nachdenken, was passieren könnte, aber
meistens ist das einzige was passieren kann, dass man sich ein bisschen Prellt, aber
das ist ja jetzt wirklich nicht so schlimm. Man fällt halt hin und wieder auf die Nase,
aber das ist überhaupt kein Problem. Von außen sieht‘s immer so aus, als ob alles
perfekt passt, aber stürzen gehört zum Erlernen von jedem Sport dazu und das ist
nicht schlimm. Und auch stürzen kann man lernen.